Wasser predigen, aber Champagner trinken?

Bis über das Agenda-Jahr 2010 hinaus wird die breite Bevölkerung Deutschlands den Gürtel enger schnallen müssen. Wer wird uns fortan im Herzogtum Lauenburg die Hiobsbotschaften und Maßhalteappelle aus Berlin überbringen? Vom nächsten Sep­tem­­­ber an vielleicht nicht mehr die Funktionäre der SPD, sondern Herolde des kon­ser­va­tiven Lagers.

Auf einer Versammlung der CDU stellten sich Anfang Juni in Schwarzenbek fünf Her­ren vor, die für die kommende Bundestagswahl kandidieren wollten. Sie gaben über ihre politischen Ziele Auskunft, wobei einiges mehr oder weniger Belangloses ange­fragt und ebenso vieles Bekanntes geantwortet wurde. Einer der Anwesenden schien jedoch alle guten Formen des Anstandes und der politischen Kultur verges­sen zu haben: Ob denn der eine Bewerber, Urenkel des Reichskanzlers Otto von Bismarck, wirklich die Interessen der Wähler vertreten wolle, da er doch vielleicht eher daran interessiert wäre, eine Familientradition neu zu begründen und Politiker zu werden, aber, sichtbar an seinem großspurigen Lebensstil, nicht die Bedürfnisse der einfa­chen normalen Bürger kenne oder im Auge habe. Unter anderem habe er angeblich drei Jahre lang als Dauergast in einem der teuersten Hotels der Welt in Berlin neben dem Bundestag logiert, um dort auf den Einzug ins Parlament zu warten.

Den pöbelhaften Affront dieses offensichtlich mit Neidkomplexen beladenen Denun­zian­ten musste der Moderator der Veranstaltung selbstverständlich helfen abzuweh­ren: Der Versammlungsleiter rief den Umstürzler unter heftigem Applaus nahezu des gesamten, entrüsteten Publikums zur Ordnung: Er solle sich gefälligst vorstellen und möglichst schleunig wieder hinsetzen.

(Graf Bismarck hat bei der letzten Bundestagswahl in seinem Wahlkreis verloren, er stand aber auf einem guten Listenplatz, der ihm die Aussicht eröffnete, nachzu­rüc­ken, sobald ein in den Bundestag gewählter CDU-Abgeordneter hinweg gestor­ben wäre oder auf andere Weise sein Mandat nicht mehr hätte ausüben können. Obwohl der Graf das Ziel nur so knapp verfehlt hatte, wollte man ihm kein offizielles, öffent­lich finanziertes Büro in Berlin zugestehen, also hat man, auf eigene Rechnung, im gerade wieder aufgebauten Luxushotel Adlon standesgemäß Quartier genommen, gleich neben dem Reichstagsgebäude, um dort dem großen Moment entgegenzu­sehen. Und dieser ist nun mit dem Ausschluss der Grünen aus der Regierung Schles­wig-Holsteins wirklich gekommen: Peter Harry (so Bismarck) ist Ministerpräsident geworden, und hat dem gräflichen Urenkel den Stuhl in Berlin freigemacht. Das Adlon ist laut FAZ vom 26. Juni 2005 das zweitteuerste Hotel Deutschlands, die Übernachtung kostet im Durch­schnitt 237 EURO, unter Einbeziehung auch der bescheideneren Zimmer. Hier hat sich Bismarck bestimmt ausführlich Gedanken darüber gemacht, wo den Rentnern von ihrem Überfluss noch etwas abgezwackt und den Massen kurzfristig unbeschäf­tig­ter, aber trotzdem im Genuss eines regelmäßigen Einkommens stehender Ruhr­kum­pel der Luxus ein wenig verkürzt werden kann oder wie es gelänge, dem Heer einfacher Arbeiter einige Bequemlichkeiten abzugewöhnen und sie mit den Tarifen und Arbeitsbedingungen des nahen und fernen Ostens unserer schönen globali­sier­ten Welt näher vertraut zu machen – mit dem Ziel, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen und dem internationalen Wettbewerb die Stirn zu bieten.)

Bismarck hat zuerst in die Richtung geantwortet, der Graf sei nur kurzfristig im Adlon einquartiert gewesen, etwas später meinte er aber, 500 Euro pro Nacht hätte er nicht bezahlen müssen, da ihm ein Rabatt eingeräumt worden sei – allerdings, wie man sieht, Argumente nach Bedarf und Beliebigkeit, da man Rabatt in der Regel nur bei Bezug pluraler Quantitäten oder Leistungen erhält, und nicht, weil man Politiker werden möchte. Manchmal erhält man Vergünstigungen auch, weil man schon Politiker ist: An einen fürstlichen Aufenthalt im Adlon werden sich auch der vorletzte Präsident der Deutschen Bundesbank Ernst Welteke und seine Familie dankbar erinnern. Bismarck hat diese unerhörten Äußerungen elegant zu seinem Vorteil umgemünzt und für seine Repliken immer wieder tüchtigen Beifall kassiert.

Aus nur kürzester Bekanntschaft kann der Verfasser gleich mehrere weitere Beispie­le der Beliebigkeit des noblen Herren zum besten geben: Vor drei oder vier Jahren hatte sich der Urenkel im Groß Grönauer Ortsverein der CDU vorgestellt, als Fürst Bismarck (was ihm namensrechtlich nicht zusteht, auch nicht seinem Vater, der seinen Vornamen Ferdinand geschickt mit „F.“ abkürzt) und neuer Kandidat für den Bundestag. Am selben Abend probte der Männerchor im Saal nebenan, und Bis­marck bat darum, sich den Sängern vorstellen zu dürfen. Und wo denn vielleicht der Schuh drücke: Der Flughafen möge bitte nicht weiter ausgebaut werden und dem bulgarischen Chorleiter solle nach Abschluss seines Studiums an der Lübecker Musik-Hochschule die Einbürgerung in Deutschland ermöglicht werden. Ohne lange zu überlegen, und von den Positionen seiner Partei deutlich abrückend, versprach der Kandidat, sich für beide Anliegen gerne einzusetzen. Die Herzen flogen ihm zu, und allenfalls Kleingeister hätten davon gesprochen, der angehende Politiker wollte sich beim Wählervolk einschmeicheln, um seine bevorstehende Karriere zu be­schleu­nigen. Vielleicht hat er seine Prinzipien bloß kurz vergessen – man kann aber auch nicht ganz ausschließen, dass er solche ablegt, sobald sie ihn bei der politi­schen Entfaltung stören. Exponenten der Groß Grönauer CDU haben sich ja eben­falls gegen den Ausbau des Lübecker Flughafens oder die Realisierung der Auto­bahn stark gemacht oder es unterlassen, diese Projekte offen zu unter­stützen, blind für deren wirtschaftliche Notwendigkeit, nur um sich beliebt zu machen.

Inzwischen mundtot, konnte sich der Abweichler der Schwarzenbeker Veranstaltung nun einiges durch den Kopf gehen lassen: Auch in einer Demokratie scheint es bei Stellenbesetzungen mehr auf den äußeren Schein oder auf die mediale Wirksamkeit anzukommen als auf Charakterstärke, Fleiß, Intelligenz und humanitäre Visionen. Ein­mal im Rampenlicht, mit einem geläufigen Namen, braucht man den Leuten nur noch ein wenig nach dem Mund zu reden. Mit der Vereinnahmung des Trägers eines fürst­lichen Namens stellt sich die CDU auf Augenhöhe mit der Regen­bogen­presse, die vom Hang der Einfältigen unseres Volkes profitiert, ver­meint­lich höhere Gesell­schaftsschichten anzubeten (weshalb dieser anachroni­sti­sche Adels­unfug bei uns nicht aus der Welt zu schaffen ist), oder mit der Mineral­wasser­firma, die für jedes Eti­kett mit dem berühmten Namen seines Urgroßvaters im Schilde eine bestimmte Anzahl Cents auf das gräfliche Konto leitet (womit vielleicht die Herberge in Berlin ab­ge­funden wurde). Aber bei dem schwachen Anklang, den die CDU in den Jahren nach Barschel in Schleswig-Holstein gefunden hat, greift man nach jedem Strohhalm.

Auf der Versammlung in Schwarzenbek wurde jedenfalls dem Nörgler das Wort abgeschnitten und er konnte gar nicht alle seine Bedenken äußern. Aber allein was ihm zur Sprache zu bringen gelang, war gar nicht so abwegig: Bei mehreren Gele­gen­heiten, einem geneigteren Publikum zu Gehör gebracht, hat er sogar vorwiegend Zustimmung erhalten. In einer Volkspartei wie der CDU findet sich trotz aller konser­va­tiver Grundeinstellung bestimmt noch ein kleiner Spielraum, wenigstens ein schma­les Spektrum an Meinungen – bei einer freien Erörterung hätte daher doch ein gewisser Prozentsatz der Anwesenden, sagen wir einmal 75%, die Sorgen des Auf­rührers ernst genommen. Der Saal ist jedoch durch die Moderation des Vorsitzenden auf Linie gebracht worden (der Protegierte wird sich zu gegebener Zeit wohl­wollend erinnern, und ihn auch bei der nächsten Einladung aufs Schloss nicht vergessen!).

Soeben ist man ja mit seinen Freunden in Kiel ans Regieren gekommen (im Sieges­tau­mel vergisst man schnell die ausschlaggebende Schützenhilfe der SPD aus Berlin), und wenn sich die Mehrheitsverhältnisse bald noch ein wenig verbes­sern, braucht man die Regeln der Demokratie vielleicht gar nicht mehr zu beachten. Dann kommt einer vielleicht wieder in Lebensgefahr, wenn er sagt was er denkt und gegen die Mehrheit Stellung bezieht. Für den Abweichler fand sich jedenfalls vor den neuen Hohepriestern kein einziger Fürsprecher, wie immer, wenn es darauf ankommt – aus Feigheit vor der Masse, oder aus Sorge um die Stellung in der Partei.

Bei der Auswahl politischer Repräsentanten müsste sich jeder ein genaues Bild von ihnen verschaffen können, das über den äußeren Anschein hinausgeht. Die Kandi­da­ten müssten es sich gefallen lassen, dass man über ihre Qualitäten frei diskutiert, ohne Druck, unlautere Einflussnahme oder Bevormundung durch eine Clique. Man erfährt aber nicht einmal die Schulnoten der Bewerber und bekommt keine Arbeits­zeug­nisse oder andere Belege des Könnens hergezeigt. Auch keinen Auszug aus dem Vorstrafenregister der Kandidaten (oder ihrer Verwandtschaft, sofern die Kandi­da­tur durch verwandtschaftliche Beziehungen legitimiert wird, wie in diesem Fall). Als ob es bei der Bundestagswahl um eine belanglose Besetzung ginge! Kein Wunder, dass da keine akzeptable Politik herauskommt und alle nur auf der Stelle treten. Wenn bei EUROIMMUN das Führungspersonal genauso nachlässig und inkompetent oder protektionistisch (eine Hand wäscht die andere) ausgesucht würde, könnten wir nicht auf eine so erfolgreiche Firmenentwicklung zurückblicken. Bei uns muss jeder Bewer­ber alle Zeugnisse vorlegen, und er wird von Experten bis ins Kleinste ausge­fragt, und nicht von Dilettanten ausgewählt, wie bei einem Verein von Kleingärtnern.

Das wäre doch ein Rezept für die Demokratie, zur Auflösung ihres ewigen Dilemmas der Inkompetenz und zur Überwindung des Mittelmaßes: Die Abgeordneten-Stellen werden ausgeschrieben wie Führungspositionen in Universitäten oder Industrie­be­trie­ben. Ein unabhängiges Expertengremium stellt die Qualität der Bewerber nach objektiven Kriterien sicher, selegiert mehrere Kandidaten und präsentiert sie dem Wählervolk, bevor dieses die Stimmen abgibt.

In Schwarzenbek sah es eher so aus, dass sich eine Clique schon auf den Wunsch­kandi­daten festgelegt hatte. Um die Formen der Demokratie zu wahren, wurden ein paar chancenlose Alternativen vorgeschoben. Und niemand durfte durcheinander bringen, was so schön eingefädelt war! Einer der fünf Bewerber, der dieses üble Spiel im letzten Augenblick ebenso wie der Verfasser durchschaut hatte, ist auch gleich resigniert von seiner Alibi-Funktion zurückgetreten.

Es ist anzunehmen, dass der Querulant diesem Kreis bald entsagen wird, damit es ihm nicht auch noch angelastet werden kann, dass sich die CDU demnächst viel­leicht sogar mit waschechten Aristokraten arrangiert und einen Hohenzollern aus dem Hut zaubert: Wir woll’n den alten Kaiser Wilhelm wieder haben! Aber bitte nicht schon wieder eine Zangengeburt: Da könnten wir auch Rot/Grün weiter regieren lassen.

Lübeck, 2005

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