Silvester 2007 MUK Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst!

Neujahrs-Ansprache

Zu jedem Jahreswechsel gehören Raketen, Champagner und die Neunte von Beethoven. Letztere wurde am 1. Januar 2008 auch in der Lübecker Musik- und Kongresshalle zu Gehör gebracht. Im Anschluss daran gab es zwei Ansprachen, eine davon durfte der Unterzeichner halten:

Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst! Friedrich Schiller wird jetzt noch mehr­mals zu Wort kommen. Welch ein Glück hat Lübeck mit seinem hochbedeutenden Theater und mit dieser klangstarken Musikhalle, ein Forum für lebendige Kunstausübung, wo wir dem Ernst des Lebens eine Zeit lang entrinnen können. Die Kunst führt uns hier zum „Guten, Wahren und Schönen“.

Vielleicht hat unbemerkt auch die soeben verklungene Ode „An die Freude“ von Fried­rich Schiller etwas zu unserer Befreiung beigetragen, haben die Götterfun­ken in der Bevölkerung Europas ein Feuer angefacht. Die Ode beschreibt das Ideal einer Gesellschaft gleichberechtigter guter Menschen, die durch Freude und Freundschaft verbunden sind. „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“. Im Jahre 1985 wurde das Gedicht in der Vertonung Beethovens von der Europäischen Gemeinschaft als offizielle Hymne angenommen. Mir als einem nüchternen Wissenschaftler erscheint der Text allerdings zu pathetisch, und auch Schiller selbst hat das Werk nicht besonders geliebt, seine Verwendung nur für eine Dresdner Freimaurergruppe vorgesehen.

Die Götterfunken haben aber in ganz Europa gesprüht, als im Dezember des gerade vergangen Jahres auf Beschluss der Innen- und Justizminister der Eu­ropäischen Union der Schengen-Raum um neun Staaten erweitert wurde. Die Kontrollen an den Land- und Seegrenzen zwischen Polen, Tschechien, sowie Estland, Lettland, Litauen, Malta, der Slowakei, Slowenien und Ungarn wurden am 21. Dezember 2007 aufgehoben. “Freude schöner Götterfunken!“ Wir sagen heute: „Hurra!“ Für die Luftgrenzen wird der 30. März 2008 als Stichtag folgen.

Unsere Bundeskanzlerin Frau Merkel feierte das Ereignis an einem ausgedien­ten Grenzübergang in Zittau, einer der sechs Städte meiner Heimat Oberlau­sitz, dem schönsten Mittelgebirge Deutschlands – dort haben die Passkontrollen jetzt ein Ende. Dass man jedes Mal Zittau für solche Anlässe wählt, verdankt die Stadt ihrer Position im „Dreiländereck“, wo Polen, die Tschechei und Deutschland aneinander grenzen. Die Kanzlerin spart sich einen Medienauftritt.

Vor drei Jahren befand ich mich mit meiner chinesischen Frau genau an dieser Stelle und wollte die Grenze passieren, um, aus Prag kommend, unseren Ober­lausitzer Filialbetrieb zu erreichen. Nun lagen dort eigentlich zwei Grenzstatio­nen hintereinander, es galt noch einen fünfhundert Meter breiten, als polnisch deklarierten Streifen zu bewältigen. Meine Frau besaß kein Visum für Polen, sondern nur eines für die Tschechei, und ein hämischer Grenzbeamter war lei­der genötigt, uns auf einen 70 Kilo­meter langen nächtlichen Umweg auf enger Straße um das Zittauer Gebirge herum zu schicken – seine Schadenfreude war ihm deutlich anzumerken. Heute fühle ich Genugtuung, dass sein Arbeitsplatz weggefallen ist, wie auch vor wenigen Jahren viele Arbeitsplätze charakterlich ebenso kümmerlich ausgestatteter Beamter an der innerdeutschen Grenze.

Mancher von Ihnen wird einmal ähnliche Schikanen erlebt haben. Eine unserer auszubildenden Kolleginnen aus der Oberlausitz war vor zwei Jahren mit dem Auto auf Dienstreise in Breslau. Bei der Rückfahrt stellte der Grenzbeamte fest, ihre internationale Versicherungskarte sei während des Polenaufenthaltes abge­laufen – er sah keine Möglichkeit, sie weiterfahren zu lassen, obwohl ja nicht mehr zu befürchten war, dass in Polen noch ein Versicherungsfall hätte eintreten kön­nen. Sie musste das Auto im schönen Polen stehen lassen, eine enorme Parkge­bühr entrichten und eine Extrareise antreten. Ihr Auto konnte sie sich erst zwei Wochen später wieder abholen.

Jetzt gibt es dort keine Grenzbeamten und auch keine Zöllner mehr, sich an uns zu vergehen oder zu bereichern, uns zu beschnüffeln und auszuplündern! Keine kilometer- und tagelangen Staus mehr für LKW (es waren ja nicht das Geld und die Zeit der Beamten, die dort sinnlos vergeudet wurden, beim Staat gibt es eben keine flexible Arbeitszeit). Ein Sieg über eine irrsinnige, nutzlose Behörde.

„Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst“. Dieser Satz aus Schillers Wallenstein wird staatlicherseits auch anderweitig immer wieder ins Gegenteil verkehrt. Vor einigen Jahren besuchte ich mit meiner Frau das Einwohnermeldeamt in Lübeck, um ein neues Familienmitglied registrieren zu lassen – mein sechstes Kind. An ein und derselben Stelle sollte ich, inzwischen zum fünften Mal, meine Geburtsurkunde vorweisen. Mit den Jahren etwas eigensinnig geworden, habe ich mich diesmal geweigert. Wir mussten unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen, haben dann aber an den Leiter des Ordnungsamtes geschrieben. Dieser stellte fest, wir hätten die Regeln einzuhalten (hoffentlich denken Sie nicht auch alle so), aber wir sollten das Kind doch einfach in Ratzeburg anmelden. „Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt, wer klug ist, lerne schweigen und gehorchen.“ Das hat er aus Schillers Wilhelm Tell. Ich musste meinen Widerstand für diesmal aufgeben, meiner Frau zuliebe, und weil wir des Kindergeldes bedurften und auf das Doku­ment angewiesen waren. Ich werde weiter den „Geißler“-Hut grüßen, solange der Beamtenhochmut nicht den Kern meiner Freiheit berührt.

„Ernst sei das Leben, heiter die Kunst“. Deshalb gehe ich gerne in die Oper und freue mich über jede gute Vorstellung und jeden guten Regie-Einfall. Möge das Lübecker Theater weiter so gedeihen wie gerade jetzt und uns erhalten bleiben – eines der schwerwiegenden Gegengewichte zu jener Subkultur, deren Produkte im CD-Laden 95% der Regale verstopfen.

Musikalisch beeindruckend, aber auch sehr kurzweilig und witzig ist zum Beispiel das Rheingold, wie es in Lübeck inszeniert wurde, ein Meisterwerk von Oper. Da stehen die Götter schon mit ihren Umzugskartons neben der Bauhütte der Riesen und warten ungeduldig auf Einlass in die Götterburg, aber man ist sich über den Kaufpreis noch nicht einig. Schon die Rheintöchter sind eine wahre Augenweide, die attraktivsten Schwimmerinnen, die ich bei sieben oder acht anderen Inszenie­rungen an verschiedener Stelle gesehen habe.

„Ein künstlerisches Kapitalereignis meines Lebens”, schwärmte Thomas Mann über einen Theaterbesuch in Lübeck. Das kann man auch heute noch über manche Lübecker Vorstellung ohne Einschränkung sagen. So auch über die fulminante Aufführung von Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“, die gestern zu erleben war – eine opulente Inszenierung von Weltrang, voller prickelnder Erotik – ich versuche, ein bisschen Werbung für Sie zu machen, Herr Brogli-Sacher. Wir waren begeistert, meine Frau eingeschlossen.

Im Hamburger Freischütz empfahl sich der Eremit einem der Hochzeitsgäste mit einer goldenen Visitenkarte, wo doch dieser Berufsstand im Allgemeinen von Publikum nichts wissen will. Noch ein zweiter Gast bat um die Adresse des heiligen Mannes, danach wurde der Eremit von der Hochzeitsgesellschaft immer dichter bedrängt, er warf mehrere Handvoll Goldkarten in die Menge, und zum Schluss regnete es die kostbaren Souvenirs vom Himmel. In der vorletzten Hamburger Bohème – Inszenierung hat Rudolf seiner Mimi eine gelbe Mütze geschenkt, sie freute sich über dieses individuelle, so schön zu ihrem Haar passende kostbare Prachtstück, aber dann hatten im Café alle Damen auf der Bühne ohne Ausnahme genauso eine Kappe auf.

Von Beethovens Fidelio kannte ich fünf verschiedene Versionen und hatte mir das Vorurteil gebildet, Text und Handlung könnten mir nichts Neues mehr vermitteln, wer gerecht war und wer nicht, stünde von vornherein fest. Aber da hat man uns in Hamburg genau das Gegenteil vor Augen geführt. Die Gefangenen wurden nicht nur als unschuldige Opfer dargestellt, sondern gleichzeitig auch als aktive Täter – alle Kerkerinsassen waren in Begleitung eigener angeketteter Sklaven und Gei­seln, als Personen, Puppen oder auf Schilder gemalt: Ein Inder zeigte ein Kind, das für ihn arbeiten musste, ein Herr mit Turban zwei gänzlich verhüllte weibliche Erscheinungen, ein Zuhälter eine von ihm ausgebeutete sehr gut aussehende Weibsperson, ein Richter sein armes Exempel und eine geschiedene Ehefrau ihren abkassierten Ex.

Dem Publikum wurde klargemacht, dass man sich im wah­ren Leben nicht zwangsläufig voll und ganz auf der Seite der sympathischen Prot­agonisten befindet, beides, Gut und Böse ist nebeneinander in jedem von uns angelegt. Toll ist die Kunst, wir müssen nur noch die richtigen Schlüsse ziehen, dann können wir mit dem Ernst des Lebens besser umgehen und es sinnvoller bewältigen. Beethovens Werk in der Hamburger Inszenierung hätte dem glühenden Freiheitskämpfer Schiller gut gefallen. Ich gehe alle zwei Jahre einmal mit meiner Firma in die Oper oder ins Konzert – diesen Fidelio musste ich mit meinen Kollegen besuchen – das nächste Mal sind wir in Lübeck, versprochen, Herr Brogli-Sacher, wir brauchen 600 Sitzplätze.

Und „Freude schöner Götterfunken“: Es gibt eine neue Einrichtung des Lübecker Kulturlebens! Der Gedanke der Völkerverbindung durch die Kunst führte im letzten Oktober zur Gründung einer neuen gemeinnützigen Vereinigung – des Europäi­schen Konzertchores Lübeck. Mit Musikern verschiedener Nationen werden jedes Jahr mehrere groß besetzte Musikwerke einstudiert und in feinstmöglicher Vollen­dung aufgeführt, hier und in den Ländern der Partnerchöre. Herr Beck, bitte sehen Sie diese neuen Aktivitäten nicht als Konkurrenz zur etablierten Lübecker Musik­szene, beim Europäischen Konzertchor Lübeck steht die Völkerfreundschaft im Vordergrund, und wenn die Zeit zwischen den Sommerfestivals mit zwei oder drei großartigen Konzerten mehr ausgefüllt wird, kann das allen musikhungrigen Ästheten doch nur recht sein.

Die erste Aufführung war das Brahms – Requiem, vor vier Wochen hier in dieser teuren Halle, Chöre aus Schweden, Polen, Lettland und Litauen haben zusammen mit Sängern aus Lübeck gesungen, ich selbst war einer von ihnen, das Orchester war aus Polen und Deutschen zusammengesetzt, 250 Musiker, die Leitung hatte Neithard Bethke, der seine Wirkungsstätte am Ratzeburger Dom verlassen hat und seine Tradition fortsetzt, Musiker aus vielen Ländern zusammenzubringen und Freundschaft zu stiften. Bethke erfüllt auf diesem Wege schon seit 30 Jahren den Europäischen Gedanken mit Sinn, wie kaum ein anderer. Das nächste Projekt wird die Matthäuspassion von Bach sein, die Aufführung ist für den 16. März geplant, Palmarum, Sonntag vor Ostern. Fördern und unterstützen Sie diese Bemühungen, indem Sie die Konzerte besuchen, oder werden Sie förderndes Mitglied des Vereins!

„Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst!“ Wie in einem Bühnenwerk aus dem Drama blutiger Ernst werden kann, das wird Ihnen in Leoncavallo’s Bajazzo vorge­spielt. Wie im wirklichen Leben verrückt gespielt wird, Wichtigtuer bei den Behörden mit einem engagierten innovativen Unternehmen ihren Schaber­nack treiben, es ausspionieren, engstirnig mit Vorschriften überhäufen und von der Arbeit abhalten, darüber könnte ich Ihnen aus der 20jährigen Firmengeschichte der EUROIMMUN AG manches Lied singen. Mit dem weitgehenden Wegfall der Grenzkontrollen und Zollschranken in Europa ist ein Teil des Behördenwahnsinns Vergangenheit geworden, der uns bedrückt hat. Seid umschlungen, Millionen! Wem der große Wurf gelungen, mische seinen Jubel ein! Das sind zum Beispiel die großen Künstler an Lübecks Bühnen.

Und „wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund!“ Das waren die Grenzbeamten und Zöllner. Auch in Zukunft gilt es, Bevormundung und Schikanen durch Behörden und Staat weiter einzudämmen. Ein lohnendes Ziel für 2008, dieser Zeitraum wird da allerdings nicht ausreichen, ich kenne meine Pappen­heimer. Ihnen allen ein Gutes Neues Jahr!

Lübeck, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert