Silvester 2007 MUK Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst!

Neujahrs-Ansprache

Zu jedem Jahreswechsel gehören Raketen, Champagner und die Neunte von Beethoven. Letztere wurde am 1. Januar 2008 auch in der Lübecker Musik- und Kongresshalle zu Gehör gebracht. Im Anschluss daran gab es zwei Ansprachen, eine davon durfte der Unterzeichner halten:

Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst! Friedrich Schiller wird jetzt noch mehr­mals zu Wort kommen. Welch ein Glück hat Lübeck mit seinem hochbedeutenden Theater und mit dieser klangstarken Musikhalle, ein Forum für lebendige Kunstausübung, wo wir dem Ernst des Lebens eine Zeit lang entrinnen können. Die Kunst führt uns hier zum „Guten, Wahren und Schönen“.

Vielleicht hat unbemerkt auch die soeben verklungene Ode „An die Freude“ von Fried­rich Schiller etwas zu unserer Befreiung beigetragen, haben die Götterfun­ken in der Bevölkerung Europas ein Feuer angefacht. Die Ode beschreibt das Ideal einer Gesellschaft gleichberechtigter guter Menschen, die durch Freude und Freundschaft verbunden sind. „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“. Im Jahre 1985 wurde das Gedicht in der Vertonung Beethovens von der Europäischen Gemeinschaft als offizielle Hymne angenommen. Mir als einem nüchternen Wissenschaftler erscheint der Text allerdings zu pathetisch, und auch Schiller selbst hat das Werk nicht besonders geliebt, seine Verwendung nur für eine Dresdner Freimaurergruppe vorgesehen.

Die Götterfunken haben aber in ganz Europa gesprüht, als im Dezember des gerade vergangen Jahres auf Beschluss der Innen- und Justizminister der Eu­ropäischen Union der Schengen-Raum um neun Staaten erweitert wurde. Die Kontrollen an den Land- und Seegrenzen zwischen Polen, Tschechien, sowie Estland, Lettland, Litauen, Malta, der Slowakei, Slowenien und Ungarn wurden am 21. Dezember 2007 aufgehoben. “Freude schöner Götterfunken!“ Wir sagen heute: „Hurra!“ Für die Luftgrenzen wird der 30. März 2008 als Stichtag folgen.

Unsere Bundeskanzlerin Frau Merkel feierte das Ereignis an einem ausgedien­ten Grenzübergang in Zittau, einer der sechs Städte meiner Heimat Oberlau­sitz, dem schönsten Mittelgebirge Deutschlands – dort haben die Passkontrollen jetzt ein Ende. Dass man jedes Mal Zittau für solche Anlässe wählt, verdankt die Stadt ihrer Position im „Dreiländereck“, wo Polen, die Tschechei und Deutschland aneinander grenzen. Die Kanzlerin spart sich einen Medienauftritt.

Vor drei Jahren befand ich mich mit meiner chinesischen Frau genau an dieser Stelle und wollte die Grenze passieren, um, aus Prag kommend, unseren Ober­lausitzer Filialbetrieb zu erreichen. Nun lagen dort eigentlich zwei Grenzstatio­nen hintereinander, es galt noch einen fünfhundert Meter breiten, als polnisch deklarierten Streifen zu bewältigen. Meine Frau besaß kein Visum für Polen, sondern nur eines für die Tschechei, und ein hämischer Grenzbeamter war lei­der genötigt, uns auf einen 70 Kilo­meter langen nächtlichen Umweg auf enger Straße um das Zittauer Gebirge herum zu schicken – seine Schadenfreude war ihm deutlich anzumerken. Heute fühle ich Genugtuung, dass sein Arbeitsplatz weggefallen ist, wie auch vor wenigen Jahren viele Arbeitsplätze charakterlich ebenso kümmerlich ausgestatteter Beamter an der innerdeutschen Grenze.

Mancher von Ihnen wird einmal ähnliche Schikanen erlebt haben. Eine unserer auszubildenden Kolleginnen aus der Oberlausitz war vor zwei Jahren mit dem Auto auf Dienstreise in Breslau. Bei der Rückfahrt stellte der Grenzbeamte fest, ihre internationale Versicherungskarte sei während des Polenaufenthaltes abge­laufen – er sah keine Möglichkeit, sie weiterfahren zu lassen, obwohl ja nicht mehr zu befürchten war, dass in Polen noch ein Versicherungsfall hätte eintreten kön­nen. Sie musste das Auto im schönen Polen stehen lassen, eine enorme Parkge­bühr entrichten und eine Extrareise antreten. Ihr Auto konnte sie sich erst zwei Wochen später wieder abholen.

Jetzt gibt es dort keine Grenzbeamten und auch keine Zöllner mehr, sich an uns zu vergehen oder zu bereichern, uns zu beschnüffeln und auszuplündern! Keine kilometer- und tagelangen Staus mehr für LKW (es waren ja nicht das Geld und die Zeit der Beamten, die dort sinnlos vergeudet wurden, beim Staat gibt es eben keine flexible Arbeitszeit). Ein Sieg über eine irrsinnige, nutzlose Behörde.

„Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst“. Dieser Satz aus Schillers Wallenstein wird staatlicherseits auch anderweitig immer wieder ins Gegenteil verkehrt. Vor einigen Jahren besuchte ich mit meiner Frau das Einwohnermeldeamt in Lübeck, um ein neues Familienmitglied registrieren zu lassen – mein sechstes Kind. An ein und derselben Stelle sollte ich, inzwischen zum fünften Mal, meine Geburtsurkunde vorweisen. Mit den Jahren etwas eigensinnig geworden, habe ich mich diesmal geweigert. Wir mussten unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen, haben dann aber an den Leiter des Ordnungsamtes geschrieben. Dieser stellte fest, wir hätten die Regeln einzuhalten (hoffentlich denken Sie nicht auch alle so), aber wir sollten das Kind doch einfach in Ratzeburg anmelden. „Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt, wer klug ist, lerne schweigen und gehorchen.“ Das hat er aus Schillers Wilhelm Tell. Ich musste meinen Widerstand für diesmal aufgeben, meiner Frau zuliebe, und weil wir des Kindergeldes bedurften und auf das Doku­ment angewiesen waren. Ich werde weiter den „Geißler“-Hut grüßen, solange der Beamtenhochmut nicht den Kern meiner Freiheit berührt.

„Ernst sei das Leben, heiter die Kunst“. Deshalb gehe ich gerne in die Oper und freue mich über jede gute Vorstellung und jeden guten Regie-Einfall. Möge das Lübecker Theater weiter so gedeihen wie gerade jetzt und uns erhalten bleiben – eines der schwerwiegenden Gegengewichte zu jener Subkultur, deren Produkte im CD-Laden 95% der Regale verstopfen.

Musikalisch beeindruckend, aber auch sehr kurzweilig und witzig ist zum Beispiel das Rheingold, wie es in Lübeck inszeniert wurde, ein Meisterwerk von Oper. Da stehen die Götter schon mit ihren Umzugskartons neben der Bauhütte der Riesen und warten ungeduldig auf Einlass in die Götterburg, aber man ist sich über den Kaufpreis noch nicht einig. Schon die Rheintöchter sind eine wahre Augenweide, die attraktivsten Schwimmerinnen, die ich bei sieben oder acht anderen Inszenie­rungen an verschiedener Stelle gesehen habe.

„Ein künstlerisches Kapitalereignis meines Lebens”, schwärmte Thomas Mann über einen Theaterbesuch in Lübeck. Das kann man auch heute noch über manche Lübecker Vorstellung ohne Einschränkung sagen. So auch über die fulminante Aufführung von Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“, die gestern zu erleben war – eine opulente Inszenierung von Weltrang, voller prickelnder Erotik – ich versuche, ein bisschen Werbung für Sie zu machen, Herr Brogli-Sacher. Wir waren begeistert, meine Frau eingeschlossen.

Im Hamburger Freischütz empfahl sich der Eremit einem der Hochzeitsgäste mit einer goldenen Visitenkarte, wo doch dieser Berufsstand im Allgemeinen von Publikum nichts wissen will. Noch ein zweiter Gast bat um die Adresse des heiligen Mannes, danach wurde der Eremit von der Hochzeitsgesellschaft immer dichter bedrängt, er warf mehrere Handvoll Goldkarten in die Menge, und zum Schluss regnete es die kostbaren Souvenirs vom Himmel. In der vorletzten Hamburger Bohème – Inszenierung hat Rudolf seiner Mimi eine gelbe Mütze geschenkt, sie freute sich über dieses individuelle, so schön zu ihrem Haar passende kostbare Prachtstück, aber dann hatten im Café alle Damen auf der Bühne ohne Ausnahme genauso eine Kappe auf.

Von Beethovens Fidelio kannte ich fünf verschiedene Versionen und hatte mir das Vorurteil gebildet, Text und Handlung könnten mir nichts Neues mehr vermitteln, wer gerecht war und wer nicht, stünde von vornherein fest. Aber da hat man uns in Hamburg genau das Gegenteil vor Augen geführt. Die Gefangenen wurden nicht nur als unschuldige Opfer dargestellt, sondern gleichzeitig auch als aktive Täter – alle Kerkerinsassen waren in Begleitung eigener angeketteter Sklaven und Gei­seln, als Personen, Puppen oder auf Schilder gemalt: Ein Inder zeigte ein Kind, das für ihn arbeiten musste, ein Herr mit Turban zwei gänzlich verhüllte weibliche Erscheinungen, ein Zuhälter eine von ihm ausgebeutete sehr gut aussehende Weibsperson, ein Richter sein armes Exempel und eine geschiedene Ehefrau ihren abkassierten Ex.

Dem Publikum wurde klargemacht, dass man sich im wah­ren Leben nicht zwangsläufig voll und ganz auf der Seite der sympathischen Prot­agonisten befindet, beides, Gut und Böse ist nebeneinander in jedem von uns angelegt. Toll ist die Kunst, wir müssen nur noch die richtigen Schlüsse ziehen, dann können wir mit dem Ernst des Lebens besser umgehen und es sinnvoller bewältigen. Beethovens Werk in der Hamburger Inszenierung hätte dem glühenden Freiheitskämpfer Schiller gut gefallen. Ich gehe alle zwei Jahre einmal mit meiner Firma in die Oper oder ins Konzert – diesen Fidelio musste ich mit meinen Kollegen besuchen – das nächste Mal sind wir in Lübeck, versprochen, Herr Brogli-Sacher, wir brauchen 600 Sitzplätze.

Und „Freude schöner Götterfunken“: Es gibt eine neue Einrichtung des Lübecker Kulturlebens! Der Gedanke der Völkerverbindung durch die Kunst führte im letzten Oktober zur Gründung einer neuen gemeinnützigen Vereinigung – des Europäi­schen Konzertchores Lübeck. Mit Musikern verschiedener Nationen werden jedes Jahr mehrere groß besetzte Musikwerke einstudiert und in feinstmöglicher Vollen­dung aufgeführt, hier und in den Ländern der Partnerchöre. Herr Beck, bitte sehen Sie diese neuen Aktivitäten nicht als Konkurrenz zur etablierten Lübecker Musik­szene, beim Europäischen Konzertchor Lübeck steht die Völkerfreundschaft im Vordergrund, und wenn die Zeit zwischen den Sommerfestivals mit zwei oder drei großartigen Konzerten mehr ausgefüllt wird, kann das allen musikhungrigen Ästheten doch nur recht sein.

Die erste Aufführung war das Brahms – Requiem, vor vier Wochen hier in dieser teuren Halle, Chöre aus Schweden, Polen, Lettland und Litauen haben zusammen mit Sängern aus Lübeck gesungen, ich selbst war einer von ihnen, das Orchester war aus Polen und Deutschen zusammengesetzt, 250 Musiker, die Leitung hatte Neithard Bethke, der seine Wirkungsstätte am Ratzeburger Dom verlassen hat und seine Tradition fortsetzt, Musiker aus vielen Ländern zusammenzubringen und Freundschaft zu stiften. Bethke erfüllt auf diesem Wege schon seit 30 Jahren den Europäischen Gedanken mit Sinn, wie kaum ein anderer. Das nächste Projekt wird die Matthäuspassion von Bach sein, die Aufführung ist für den 16. März geplant, Palmarum, Sonntag vor Ostern. Fördern und unterstützen Sie diese Bemühungen, indem Sie die Konzerte besuchen, oder werden Sie förderndes Mitglied des Vereins!

„Ernst sei das Leben, toll sei die Kunst!“ Wie in einem Bühnenwerk aus dem Drama blutiger Ernst werden kann, das wird Ihnen in Leoncavallo’s Bajazzo vorge­spielt. Wie im wirklichen Leben verrückt gespielt wird, Wichtigtuer bei den Behörden mit einem engagierten innovativen Unternehmen ihren Schaber­nack treiben, es ausspionieren, engstirnig mit Vorschriften überhäufen und von der Arbeit abhalten, darüber könnte ich Ihnen aus der 20jährigen Firmengeschichte der EUROIMMUN AG manches Lied singen. Mit dem weitgehenden Wegfall der Grenzkontrollen und Zollschranken in Europa ist ein Teil des Behördenwahnsinns Vergangenheit geworden, der uns bedrückt hat. Seid umschlungen, Millionen! Wem der große Wurf gelungen, mische seinen Jubel ein! Das sind zum Beispiel die großen Künstler an Lübecks Bühnen.

Und „wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund!“ Das waren die Grenzbeamten und Zöllner. Auch in Zukunft gilt es, Bevormundung und Schikanen durch Behörden und Staat weiter einzudämmen. Ein lohnendes Ziel für 2008, dieser Zeitraum wird da allerdings nicht ausreichen, ich kenne meine Pappen­heimer. Ihnen allen ein Gutes Neues Jahr!

Lübeck, 2008

Weihnachts-Ansprache 2007

„Ja ich will Euch tragen, bis zum Alter hin, und Ihr sollt einst sagen, dass ich gnädig bin.“ Liebe Gäste, liebe Kollegen! Das war ein Choral von Neithard Bethke, mit einem Text von Jochen Klepper. Die gnadenreiche Zeit ist angebrochen, davon kündet die anrührende Musik, die unser Gemüt erhebt und uns von Fehltritten abhält – jedenfalls solange wir hier still sitzen und den Klängen lauschen. Ein Beitrag unseres bewährten Solisten-Ensembles, Euch auf ein friedliches Weihnachtsfest einzustimmen.

„Ja, ich will Euch tragen.“ Im Choral verdichtet sich aufs Innigste Neithard Bethkes Gottver­trauen – als skeptischer Wissenschaftler kann ich nur staunen über solche Einfalt und Naivität. Die Musik trägt uns, ansonsten ist doch diese Botschaft, einem fiktiven Gott in den Mund gelegt, offensichtlich ein leeres Versprechen. Dieser Gott ist nicht gnädig und er trägt Euch nicht: Der lässt Euch fallen – nur darauf könnt Ihr vertrauen!

“Ich danke Dir, Du großer Gott“ werden die armen Seelen gerufen haben, die in New York aus dem Flammeninferno des World Trade Center gesprungen sind – von Adelers Fittichen sicher geführet, und unten hart aufgetroffen, erst dann wurden sie von dort weg-getragen. „Gott mit uns“, war das Motto der deutschen wie auch der französischen Grenadiere, die sich zur Adventszeit 1916 in den Schützengräben vor Verdun gegenseitig niedergestochen haben. „God bless America“ – und die Bomben fielen auf Dresden, Hiroshima und Bagdad. Zu Beginn dieses Advents tötete eine Mutter alle ihre fünf Kinder, gleich in unserer Nähe. Die Lübecker Nachrichten haben ausführlich darüber berichtet – dem lieben Gott dankbar für das sensationelle Thema, eine willkommene Anregung für Voyeure und Nachahmer -, und eine der genialsten Seelsorgerinnen unserer Zeit kam zu Wort, aus Lübeck, und Nutznießerin der Frauenquote: „Gott geht mit uns in Verzweiflung und Not, mit seiner Liebe, seiner Solidarität“. Mit den beiden Vätern und den fünf Kindern war er bestimmt nicht solidarisch, als er das veranlasste oder zuließ!

Die unermessliche Huld der Kirche findet mit solchen Bekundungen noch längst kein Ende, hochherzig warten ihre Apostel und Apostelinnen mit einer weiteren, großzügigen Verhei­ßung auf: Wer in diesem Jammertal von Gott vermeintlich im Stich gelassen wurde oder zu kurz gekommen ist, wird nach dem Tode reichlich Kompensation erhalten, mit Hilfe des Kindes aus Bethlehems Stall. Also freut Euch über jeden Schicksalsschlag und richtet Euer Leben fortan gottgefällig ein, zahlt Kirchensteuern, gehorcht dem Staat, gebt das Beste – Eure Freiheit – hin, lasst Euch von Eltern, Kindern und Arbeitgeber ausbeuten, haltet einem unwür­digen Ehepartner lebenslänglich die Treue und verzichtet auf tausend Dinge, die Spaß machen – da fällt mir als erstes der Zölibat ein, dessen Opfer sich für die fernere Zukunft einen Über­fluss an Nektar und Ambrosia erhoffen dürfen, manchem von ihnen vielleicht dargeboten von einem hübschen knabenhaften Messdiener. Aber wahrlich, ich sage Euch: Jene Asketen, die sich hiernieden der Befriedigung elementarster Bedürfnisse enthalten, um einen Logenplatz im Himmel zu erringen, werden wie alle anderen zu Staub zerfallen, und kein Gott braucht der bischöflichen Fürsprecherin Wartenberg-Potter Verlöbnisse einzulösen. Auch von den Terroristen des 11. September ist nichts übrig geblieben, und sie konnten nach ihrem letzten Flug nicht einmal mit einer der zehn versprochenen Jungfrauen eine rauschende Liebesnacht verbringen.

Was hilft uns da das kleine Kind, Jesus von Nazareth, das vor zweitausend Jahren geboren wurde – uns zum Heil, ein Sohn gegeben? Wahrlich: Auch dieses Kind steht uns nicht bei. In seinem Namen wurde soviel Unheil angerichtet wie nie zuvor in der Weltgeschichte: Denkt an die Kreuzzüge, die Inquisition, den Dreißigjährigen und viele andere Kriege, die Missionierung und Versklavung Afrikas, die Verbrennung so vieler wohlproportionierter Blondinen auf dem Scheiterhaufen und, aus gutem Grund, das über viele Epochen hin geltende Verbot wissenschaftlicher Grundlagenforschung. Die Menschen haben die Heils­geschichte ins Gegenteil verkehrt, das Christentum wurde zum Motor des Unheils, zur „Kraft, die stets das Gute will, doch nur das Böse schafft“. Und im Morden entwickelte sich die christliche zur bisher erfolgreichsten aller Religionen. Zurzeit versuchen allerdings religiöse Fanatiker anderer Glaubensrichtungen, die christliche Kirche zu überholen, und unsere Politiker lassen sie ohne Not in unser Land und finanzieren sogar ihre Verbrechen.

Hat das Jesuskind an allem Schuld? Unsinn! Es gab Millionen tugendhafter Menschen, die umgebracht wurden, vor und nach „Christi Geburt“, aber gerade diese Sagengestalt hat nie­mals den Boden unseres Jammertals betreten. Die Christuslegende ist nur eine Hypothese, und von ein paar Märchenerzählern schön erfunden, vielleicht von Aufwieglern oder Dema­gogen, die das späte Römische Reich destabilisieren wollten. Die Archäologen und Historiker konnten keine objektiven Zeugnisse aus jener Zeit finden, mit denen sich auch nur eine der Jesus-Episoden belegen ließe, wo man doch sonst zu jeder wichtigen Begebenheit der Weltge­schichte unzählige Fundstücke ausgegraben und detaillierte Erkenntnisse gewonnen hat. Die Legenden des Neuen Testaments wurden ein paar Jahrhunderte später ausgedacht, als mit den früher zur Verfügung stehenden Mitteln niemand mehr den Wahrheitsgehalt überprüfen konn­te! Deshalb wird auch keiner gleich nach seinem Ableben heiliggesprochen, damit Zeitgenos­sen nicht damit auspacken können, welcher Lump es war, der auf den Thron gehoben wird.

Viele Menschen denken wie ich, und auch die meisten Pfarrer sehen das Neue Testament als ein großes Märchenbuch an, wie Tausendundeine Nacht, sie trauen sich nur nicht, das zuzu­geben, damit sie ihren Job nicht verlieren, und weil sie den Angsthasen unter uns den Trost nicht verweigern wollen, die sich vor der kalten Friedhofserde fürchten. Man will die Wahr­heit gar nicht hören und verschließt ganz fest die Augen vor den Erkenntnissen moderner Naturwissenschaft, die jede Religion bloßstellen und in deren Licht alle übersinnliche christ­liche Überlieferung als haarsträubende Lügengeschichte erscheint.

Aber warum feiern wir dann heute noch Weihnachten? Und wie kann ich Euch jetzt wieder in friedliche Adventsstimmung versetzen? Ganz freiwillig stelle ich daheim jedes Jahr einen Weihnachtsbaum auf, schmücke ihn und singe mit meiner Familie, und heute mit Euch, fromme Lieder:

In unserem Karriere-Eifer und ehrgeizigen Streben sollten wir immer wieder Kampfpausen einlegen, um uns mit unseren Nächsten zu beschäftigen und sie nicht links liegen zu lassen oder ganz zu vergessen. Einmal im Jahr ziehen wir uns zurück, finden Zeit für Ruhe und Besinnung, und rufen uns ins Bewusstsein, welchen Glückes wir teilhaftig sind, etwa in unserer Familie und unserer Firma den Mittelpunkt gefunden zu haben, mit guten Menschen befreundet zu sein – privat und an eines jeden Wirkungsstätte. Solches Glück bei sich zu ent­decken, bietet Weihnachten die beste Gelegenheit, und die schön erfundenen Geschichten, die sich darum ranken, hören wir uns in Frieden an. Wir brauchen nicht ständig ihren Wahrheits­gehalt zu überprüfen, das machen wir auch bei den anderen Märchen nicht, wenn wir sie unseren Kindern vorlesen. Wir ergreifen für die altruistischen Protagonisten Partei und nehmen uns an ihnen ein Beispiel.

Der Mensch muss Balance halten zwischen den Kräften Egoismus und Altruismus – die eine Kraft hilft uns, den täglichen Überlebenskampf zu bestehen und satt zu werden, die andere ist gekennzeichnet durch Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft und Beschützerinstinkt – davon profi­tieren unsere noch schwachen Kinder. Kampfgeist und Harmoniebedürfnis sind in jedem von uns angelegt, beide müssen zur Geltung kommen, damit wir glücklich durch das Leben gelan­gen. Man kann nicht immer Forte singen, zur Musik gehört auch das innige Pianissimo.

Im ganzen Jahr kämpft und nehmt Euch was Ihr braucht und was Euch zusteht, aber zu Weih­nachten gebt vor allem der Nächstenliebe Raum. Und macht aus der Adventszeit keine Hetzjagd und Schlacht um Geschenke, sonst verkehrt sich das Wesen des Advents in sein Gegenteil. Setzt am Wühltisch bei C&A keine Ellenbogen ein, um rechtzeitig noch alles zu schaffen, drängelt nicht an jeder Schlange und lasst die Faust in der Hosentasche, wenn man Euch einen Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat. Lasst Euch vom Lübecker Einzel­handel nicht manipulieren und zum Konsum zwingen, der „den Namen des Herrn“ miss­braucht: Bereits Anfang November ertönen die Weihnachtslieder im Supermarkt, klingeling, sie wollen Euch ins Gewissen reden: Denkt an das Glück Eurer Kinder, vergesst nicht, Berge an Präsenten zu beschaffen, hier sind sie wohlfeil.

Hört aber auf mich: Gebt den Kindern lieber von Eurer Zeit ab, wendet jedem nur ein oder höchstens zwei materielle Geschenke zu und vereinbart mit Ehegatten und Freunden, dass man ganz und gar auf Weihnachtsgaben verzichtet (die Hälfte kann man sowieso nicht gebrauchen und muss den Plunder dann im Januar wieder umtauschen).

Bleibt in der Adventszeit öfter mal ein wenig zu Hause, zündet zu Kaffee und Lebkuchen die jeweils obligatorische Zahl an Kerzen an, schmückt an den Feiertagen den Baum, singt ein paar Lieder, geht spazieren, spielt mit den Kindern oder lest ein schönes Buch, diesmal vielleicht keinen Kriminalroman mit zehn Toten.

De Welt is rein so sachen, as leeg se deep in Drom, man hört ni ween noch lachen, se’s lisen as en Bom. Das wul de Himmelsfreden, ahn Larm, un Strit, un Spott, dat is en Tid tum Beden, hör mi du frame Gott, hör mi du frame Gott.

Lübeck, 2007

Familie

Weihnachts-Ansprache

Die gnadenreiche Zeit ist angebrochen, im Advent stimmen wir uns auf ein friedliches Weihnachtsfest ein. Alle erfreuen sich der jährlich wiederkehrenden Geburt des Jesus von Nazareth – uns zum Heil, ein Sohn gegeben! Es gibt Pfefferkuchen, Glühwein und viel Musik, darunter bereits seit vielen Jahren in Lübeck regelmäßig ein Kiwanis Benefizkonzert zugunsten bedürftiger Kinder.

Wenn Sie mich fragen: Christi Geburt ist nur eine Legende, von Märchenerzählern schön erfunden. Trotzdem stelle auch ich ganz freiwillig jedes Jahr einen Weihnachtsbaum auf, schmücke ihn, zünde Kerzen an und singe in meiner Firma und mit meiner Familie fromme Lieder. Einmal im Jahr ziehen wir uns zurück, kommen zu Ruhe und Besinnung, nehmen uns Zeit für Kinder, Angehörige und Mitmenschen, und rufen uns ins Bewusstsein, dass wir in unserer Familie den Mittelpunkt gefunden haben und mit Menschen befreundet sind, die wir schätzen – privat und an unserer Wirkungsstätte. Solches Glück immer wieder bei sich zu entdecken, bietet Weihnachten die Muße und die beste Gelegenheit – und die schön erfundenen Geschichten, die sich darum ranken, hören wir uns in Frieden an. Wir brauchen nicht ständig ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, das machen wir auch bei den anderen Märchen nicht, wenn wir sie unseren Kindern vorlesen. Wir ergreifen für die altruistischen Protagonisten Partei und nehmen uns an ihnen ein Beispiel.

Der Mensch muss Balance halten zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit – die eine Kraft hilft uns, den täglichen Überlebenskampf zu bestehen und satt zu werden, von der anderen profitieren unsere noch zarten und schwachen Kinder – und manchmal auch andere hilfsbedürftige Mitmenschen. Kampfgeist und Beschützerinstinkt sind in jedem von uns angelegt, beide müssen zur Geltung kommen, damit wir glücklich durch das Leben gelangen. Man kann nicht immer Forte singen, zur Musik gehört auch das innige Pianissimo.

Also kämpft im ganzen Jahr und nehmt Euch was Ihr braucht und was Euch zusteht, aber zu Weihnachten gebt der Nächstenliebe Raum. Und macht aus der Adventszeit keine Hetzjagd und Schlacht um Geschenkartikel, sonst verkehrt sich das Wesen des Advents in sein Gegenteil. Setzt am Wühltisch im Kaufhaus keine Ellenbogen ein, rast nicht durch den Weihnachtsmarkt, drängelt nicht an jeder Schlange und ballt nicht gleich eine Faust, wenn man Euch einen Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat. Lasst Euch vom Lübecker Einzel­handel nicht manipulieren und zum Konsum nötigen, der „den Namen des Herrn“ missbraucht: Bereits Anfang November werden die Lichterketten installiert und die Weihnachtslieder ertönen im Supermarkt, klingeling, sie wollen Euch ins Gewissen reden: Denkt an das Glück Eurer Kinder, vergesst nicht, Berge an Präsenten zu beschaffen, hier sind sie wohlfeil.

Hört aber auf Eure Herzen: Gebt den Kindern lieber von Eurer Zeit ab, wendet jedem nur ein oder höchstens zwei materielle Geschenke zu und vereinbart mit Ehegatten und Freunden, dass man ganz und gar auf Weihnachtsgaben verzichtet (die Hälfte kann man sowieso nicht gebrauchen und muss den Plunder dann im Januar wieder umtauschen). Bleibt in der Adventszeit länger zu Hause, zündet zu Kaffee und Stollen die jeweils obligatorische Zahl Kerzen an, schmückt den Weihnachtsbaum, singt Lieder, geht spazieren, spielt mit den Kindern oder lest ein schönes Buch, diesmal vielleicht keinen Kriminalroman mit zehn Toten.

De Welt is rein so sachen, as leech se deep in Drom, man hört nie ween noch lachen, se’s lisen as en Bom.

Das wul de Himmelsfreden, oahn Larm, un Strit, un Spott, dat is en Tid tum Beden, hör mi du frahme Gott, hör mi du frahme Gott.

Lübeck, 2010

Ko-Existenz

Weihnachts-Ansprache

Bald feiern wir wieder Weihnachten. In der Adventszeit dieses Jahres ist an friedliche Besinnung nicht zu denken. Das halbe Arabien macht Revolution. Wie damals im Iran sind wir erst einmal wieder alle davon begeistert, bis die Ernüchterung kommt: In Ägypten meldet sich mit den Muslimbrüdern das Mittelalter zurück, mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist es bald auf lange Zeit wieder vorbei und die Frauen bleiben Sklaven. Alles wird schlimmer als vorher, die Völker geraten vom Regen in die Traufe. Die Welt wird immer mehr zu einem Pulverfass, und die freien Länder legen die Hände in den Schoß.

Und unsere Zeitungen sind voll von Berichten über Gewalttaten gegen Ausländer in Deutschland. Endlich hat man die verblendeten Täter aufgespürt, und wir alle trauern noch einmal mit den Opfern und Hinterbliebenen. In Deutschland sind solche Terror­akte heute eine sporadische Randerscheinung, in dieser Hinsicht können Länder wie Indien, Afghanistan und Irak mehr bieten. Aber Ausländerfeindlichkeit ist hier zu Lande noch weit verbreitet. Wer keinen deutschen Pass besitzt oder eine bei uns seltene Hautfarbe, kann es immer wieder erleben, dass er angepöbelt oder sogar verprügelt wird.

Vorbehalte gegenüber Ausländern gibt es auf der ganzen Welt, kein Land ist immun dagegen. Dass die Menschen Gruppen bilden und sich die verschiedenen Gruppen voneinander abgrenzen, liegt in unserer Natur! Es ist sogar ein Gesetz der Evolution! Die einzige Möglichkeit, wie unsere neuen Mitbewohner diese Vorbehalte überwinden können, sehe ich darin, dass sie sich voll und ganz integrieren, unsere Sprache erlernen und sich anpassen, anstelle einen eigenen Staat in unserem Staate auszubilden. Der türkische Ministerpräsident Erdogan sät neue Gewalt, wenn er seinen nach Deutschland gezogenen Landsleuten einredet, sie seien in erster Linie Türken, und dann Deutsche. Für mich ist er ein verantwortungsloser Unruhestifter, der das langfristige Ziel hat, die Türkei auf Deutschland auszudehnen. Unsere ehemals türkischen Mitbewohner oder auch die jüdischen Kontingentflüchtlinge aus Russland sollen dagegen eine deutsche Identität voll und ganz annehmen, nur dann sind sie hier willkommen. Sie sollen sich ihren Ehepartner in Deutschland suchen und dabei in deutsche Familien hinein heiraten. Wer von uns Deutschen das System durchschaut hat, sieht die Einbahnstraße von Anatolien nach Deutschland als Missbrauch unseres Vertrauens an.

Liebe türkische Kollegen, die Deutschen erwarten von Euch Fairness. Eure Söhne sollen sich unter deutschen Töchtern umschauen, wir haben genug davon, hübsche und anständige Mädchen. Lasst Euch nicht von den Mullahs einreden, Allah hätte etwas dagegen. Ist Allah ein guter Gott, wird er sich freuen, wenn sich unser Blut vermischt. Ich schlage Euch jetzt etwas vor, nach alter Väter Sitte: Eure Kinder heiraten die unseren, dann haben unsere Enkel einen Migrationshintergrund von 50% und bei den nächsten Generationen wird es immer weniger. Und feiert zusammen mit uns Weihnachten, das Fest der Liebe – nicht nur als Kollegen, sondern als unsere Brüder und Schwestern.

Guckst Du.

Lübeck, 2011

Weihnachts-Ansprache 2005: Das Wunder des 17. Juni

Weihnachts-Ansprache 2005

Das letzte Jahr ist nach meinem Gefühl schneller vergangen als jedes andere davor. Mir kommt es vor als wären unsere letzten Weihnachtslieder gerade erst verklungen, und wir sind schon wieder versammelt, um unsere Adventsfeier hier abzuhalten. Wie kann es sein, daß einem die Zeit so schnell vergeht? Die Erklärung ist, daß sich inzwischen so viel ereignet hat: Man ist gar nicht dazu gekommen, zu reflektieren. Thomas Mann hat dieses Phänomen einmal zum Gegenstand eines Romans gemacht, dem Zauberberg, wo er dargestellt hat, daß jemandem die Zeit so gar nicht vergehen will, in dessen Leben sich wenig ereignet. Wenn er aber gegen Ende seiner Lebensspanne zurückblickt, hat er das Gefühl, sein Leben sei sehr schnell zu Ende gegangen. Aber einer der viel erlebt hat, spürt das Umgekehrte, ihm kommt sein vergangenes Leben rückblickend länger vor (so lang wie der ganze Roman Zauberberg, an dem man mindestens ein halbes Jahr lang liest).

Also bei EUROIMMUN sind im Jahr 2005 so viele Marksteine gesetzt worden, daß wir diesen Zeitraum so schnell nicht vergessen werden. Es war ein ausgesprochen erfolgreiches Jahr, auf allen Ebenen. Es war auch ein Jahr der Ernte, in dem wir von unserer Arbeit aus den Vorjahren profitieren konnten.

Wir konnten nach fünf Jahren Aufbauarbeit in unser schönes Haus 5 einziehen, haben die Anbauten in Groß Grönau fertiggestellt, im Kasernengelände eine neue technische Infrastruktur geschaffen, also grundlegend die Stromversorgung, Heizung, Warm- und Kaltwasser und Abwasser neu geschaffen – Grundlage für die weitere Expansion des Unternehmens.

Die Konstruktionsabteilung hat im Zusammenwirken mit den Elektronikern und Informatikern der Firma mehrere komplizierte und Aufsehen erregende Maschinen und Geräte entwickelt, Beispiele sind die Gerätesysteme der Bestückungstechnolo­gie für BIOCHIPs, die von weltweit anreisenden Fachbesuchern immer wieder bestaunt werden, eine geniale vollautomatische optische Auswertungseinheit (EUROLINE­Scan) für Westernblots, die unseren Umsatz um Millionen angehoben hat, und eine völlig neue, bei uns erfundene Beleuch­tungs­einrichtung. Was die Reagenzien anbetrifft, haben wir unsere Produktpalette maßgeblich fortentwickelt. Wo immer wir die Möglichkeit haben, unsere Diagnostika vor­zu­füh­ren, zollt man uns große Anerkennung und bewundert die Aktualität des Produktspek­trums und die Leistungsfähigkeit unseres Unternehmens. Durch die Umwandlung des Unterneh­mens in eine Aktiengesellschaft und den auch wirtschaftlichen Erfolg hat sich die Eigen­kapi­tal­situation gravierend verbessert, und wir sind finanziell in ruhiges Fahrwasser gelangt.

Viele meiner Träume haben sich erfüllt. Einer davon war mir ganz besonders wichtig: Der Wiederaufbau unseres Haupthauses in Rennersdorf, das dritte Gebäude nach dem Spinnsaal und dem Nebengebäude.

Wir haben das Haupthaus unter Erhaltung der altehrwürdigen Mauern großenteils abreißen und neu erstehen lassen. Heute vor einer Woche konnten wir das Richtfest feiern. Dieses Haus wurde 1839 zum ersten Mal erbaut, der Tuchbereiter Wiedemann hatte sich hier seinen Traum erfüllt, für 3000 Reichstaler unter Aufnahme eines Darlehens eine schöne kleine Fabrik erstehen zu lassen. 1935 hat das Grundstück mein Großvater Paul Stöcker gekauft, mit dem Geld der Großmutter, nach meiner Kenntnis für 26.000 Mark. Opa hatte sein ganzes Geld für seine vielen Erfindungen ausgegeben. Er hat dort mit dem Spinnen von Erntebindegarn angefangen, in ganz kleinem Maßstab.

Mein Vater hat den Betrieb seit 1945 fortgeführt, nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war. Auch er hat von etwas geträumt, nämlich von einer Grobgarnproduktion in großem Stil. Er erfand dazu eine Knotenquetsche, die es ermöglichte, Bindegarnenden zu verwerten. Das war Abfall der Landwirtschaft, den man wegen der Knoten nicht ohne weiteres wieder verspinnen konnte. Die Maschine meines Vaters hat die Knoten zwischen zwei Zahnwalzen auseinander gerissen, und man hatte in der Rohstoff-knappen DDR-Zeit das beste denkbare Ausgangsmaterial zur Verfügung: Sisal aus Vorkriegsware. Das Stöcker’sche Erntebindegarn war daher das reißfesteste, das man in der DDR kriegen konnte. Die Bauern haben deshalb nach dem Krieg zur Erntezeit bei uns Schlange gestanden und uns in der schlechten Zeit ein bisschen verwöhnt. Es wurde dann eine 72-köpfige Spinnmaschine gekauft, dazu die ganzen vorgeschalteten Karden und Strecken. Wegen dieses eingegangenen Risikos haben meine älteren Verwandten meinen Vater alle für verrückt erklärt. Aber er hat Bindegarn in die ganze DDR geliefert und hatte die beste Qualität. Er musste sogar sein Geheimnis mit der Knotenquetsche preisgeben, die in Karl-Marx-Stadt mehrmals nachgebaut wurde. Die Grobgarn-Spinnerei bestand bis 1960.

Der Betrieb wurde nach unserem Wegzug nach Oberfranken vom Staat eingezogen und einer Textilfabrik in Olbersdorf zugeschlagen, bis 1990 war dort ein VEB und man hat Industrietextilien hergestellt. Mit etwas Diplomatie konnten wir das Grundstück vom Staat zurückerwerben, für inzwischen 175.000 DM, aber wir haben schon mehr als das Doppelte zusätzlich hineingesteckt.

Dass jetzt die Firma EUROIMMUN in Rennersdorf eine Niederlassung betreibt, die Gebäude wieder so schön hergerichtet werden und eine Wirkungsstätte für hundert Werktätige entstanden ist, hat wieder viel mit Träumereien zu tun. Als Kind habe ich auf dem Weg hinter dem Haupthaus Himbeeren gepflückt, in einem Sommer konnte man dort Krüge füllen,  und dort habe ich von einer großen Himbeerplantage geträumt, in Westdeutschland, wohin wir ziehen wollten, um am großen Wirtschaftswunder teilzuhaben.

Dort 1960 dort angelangt und erst einmal sozial richtig abgestiegen – keiner hieß die Flücht­linge willkommen, konnte man nur noch von seiner Heimat träumen, ich war damals wirklich davon überzeugt, sie im Leben nie wieder zu sehen. Dann war es aber doch möglich geworden, Verwandte in der DDR zu besuchen, zuerst uns Kin­dern, dann auch wieder den Eltern, meistens, wenn jemand aus der Verwandt­schaft verstorben war, und da musste ich beobachten, wie alle paar Jahre die Gebäu­de dort zunehmend verfielen. Einmal erhielt ich einen Platzverweis, etwa 1966, nachdem ich mich bei einem Verwandtenbesuch dort umgesehen hatte. Dann bin ich über den Heideberg auf meinen Weg hinter dem Haupthaus gegangen und habe wieder nur träumen können von einer fernen Zukunft, in der das Kreppel, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, wieder in den Zustand versetzt wird, der ihm gebührt.

Nach der Wende bin ich manchmal aus dem Schlaf erwacht und hing einem Traum nach, in dem die Fabrikgebäude frisch renoviert waren und grüne Bäume sie verzierten, ganz anders als es der Realität entsprach, zum Beispiel aus der Zeit von 1990, als der Schmuck rundum aus Kohlenhalden bestand und die Häuser schon nahe daran waren, ein Opfer der Abrissbirne zu werden.

Es war ein großes Glück, dass gerade im richtigen Augenblick die Firma EUROIMMUN einen Entwicklungsstand erreicht hatte, der ein Engagement in dieses Grundstück erlaubte. Einerseits mussten wir uns etwas vergrößern und haben sowieso mehr Platz benötigt, dann haben wir das Vertrauen mehrerer Sparkassen und Banken besessen und außerdem war immer etwas Gewinn wegzudrücken, den wir sonst hätten versteuern müssen. Staatliche Investitionszuschüsse haben wir zwar auch in Anspruch genommen, die gaben aber nicht den Ausschlag.

Da wir uns seit der Gründung des Unternehmens immer mit Renovierungsmaß­nah­men beschäftigt hatten und zunehmend Übung bekamen, Häuser herzurichten, haben wir also auch in Rennersdorf eine Baumaßnahme nach der anderen durch­ge­führt und erfolgreich abgeschlossen. Dabei geben wir uns viel Mühe, damit jeder, der bei EUROIMMUN tätig ist, auch Freude an der Arbeit hat und es ihm nicht graut, jeden Tag in die Firma zu gehen, in der man doch ein Drittel des Lebens verbringt. Früher litt ich manchmal an Alpträumen, bei denen völlig entgegen meiner Planung und in unzureichender Qualität gebaut wurde. Diese Alpträume sind inzwischen immer seltener geworden. Offenbar hat sich die Realität in meinem Unterbewusst­sein widergespiegelt, dass wir in der Lage sind, hohe architektonische Ansprüche zu erfüllen, anfangs vorwiegend aus eigener Kraft, seit einiger Zeit jedoch unter Mithilfe der professionellen Bauindustrie.

Unsere Geschichte hat gezeigt, dass ein Traum Wirklichkeit werden kann. Das unterscheidet einen Traum von einer Illusion, wie den Sozialismus oder den Kommunismus, für deren versuchte Umsetzung in die Realität wir in unserer Vergan­genheit einen hohen Preis entrichten mußten: Der real existierende Sozialismus war alles andere, als Karl Marx es sich vorgestellt hatte, er hat Ruinen geschaffen, für die unser Kreppel das beste Beispiel ist. Die sozialistische Planwirtschaft konnte Träume nur er­sticken, welche Kraft von Träumen ausgehen kann, das hat sie nicht bedacht. Das Datum des 17. Juni 1953 ist ein Symbol dafür, und man hätte lieber am Feiertag im Juni festhalten sollen, anstelle mit dem Tag der Wiedervereinigung zu tauschen.

In Rennersdorf ist eine Ruine wieder auferstanden – die anfangs in der DDR gespielte und dann wieder aus dem Programm genommene Nationalhymne „Aufer­standen aus Ruinen“ könnte man jetzt wieder einführen, da man ja „Deutschland über alles“ nicht mehr singen darf und will. Dank eines Traumes also, aber auch nur, weil sich so viele mit dafür eingesetzt haben, mit Fleiß, Mühe und Kunstfertigkeit, ist dieses altehrwürdige Gebäude in Rennersdorf wieder neu erstanden.

Ich wünsche Euch allen, dass auch viele Eurer Träume in Erfüllung gehen mögen. Sollte jemand mutwillig Eure Träume zu zerstören versuchen, befreit Euch von ihm, seien es politische Ideologen oder die Kirche, böswillige Ehepartner, Chauvinisten oder kapitalistische Ausbeuter! Haltet an Euren Träumen fest, dann werden viele davon einmal Wirklichkeit.